Grossratswahlen 2024: Persönliche Rechenschaft und Ausblick
Sehr geehrte Wählerinnen und Wähler
Sie haben mich 2016 und 2020 in den Grossen Rat gewählt. Auch diesen Herbst stelle ich mich zur Wahl. Anstatt Hochglanzflyer zu verschicken oder Gadgets zu verteilen, gebe ich Ihnen Rechenschaft über meine politische Tätigkeit in dieser zu Ende gehenden Legislatur und beleuchte die aktuellen Aussichten im (Aargauer) Gesundheitswesen.
Es war und ist mir eine Ehre, seit 2021 die grossrätliche Fachkommission Gesundheit und Sozialwesen GSW zu präsidieren – d.h. zu deren Sitzungen einzuladen, das Wort zu erteilen, das Protokoll als Erster (und vielleicht als Einziger vollständig) zu lesen, die Geschäfte als Kommissionssprecher vor dem Plenum zu vertreten und mich im Übrigen politisch zurückzuhalten.
Unabhängig vom Wahlausgang am 20.10.24 werde ich diesen Vorsitz per Ende Jahr abgeben. Damit werde ich auch die Aufgabe des «Ober-Aufsehers» über das Departement Gesundheit und Soziales DGS beenden. In dieser Funktion hatte ich wenig zu kritisieren. Parteipolitisch am Gegenpol von DGS-Vorsteher Jean-Pierre Gallati, kam ich in sachlogischen Fragen meist zu ähnlichen Schlüssen wie er – gefühlt öfter als seine eigene Partei.
Im Normalbetrieb gehen über den Tisch der Fachkommission GSW Budgetkredite von gut 1 Mia. CHF pro Jahr (gesamter Kantonsaufwand 5 Mia. CHF). Die grössten Brocken sind Spitäler und Prämienverbilligungen. Das Sozialwesen, die Unterbringung und Betreuung von geflüchteten Menschen kosten den Kanton etwa 10- bis 20-mal weniger, mitunter dank Beiträgen des Bundes.
Dazu kamen in den vergangenen Jahren Vorlagen mit zwei- und dreistelligen Millionenbeträgen im Zusammenhang mit COVID, mit den Schutzsuchenden aus dem Ukrainekrieg, mit der finanziellen Schieflage des KSA Kantonsspitals Aarau. Mir und meiner Fachkommission GSW können Sie mit Fug und Recht vorwerfen, dass wir sehr viel Geld ausgegeben bzw. bewilligt haben. Die Anträge kamen vom Regierungsrat (bürgerlich), vorbereitet im DGS (Vorsteher SVP), in der Kommission und im Grossen Rat gehören auch 2/3 der Mitglieder bürgerlichen Parteien an. Es waren also nicht «die Linken», die Steuergelder verprasst haben, sondern die hohen Ausgaben waren immer gut begründet und politisch sehr breit abgestützt. Wenn jeweils ein paar SVP-ler dagegen waren, dann immer im Wissen, dass die Mehrheit die Kohlen schon aus dem Feuer holt …
Wegen erwähnten Dringlichkeiten immer wieder verschoben wurde die Gesundheitspolitische Gesamtplanung (GGpl 2030). Nach intensiver Vorbereitung, Vorberatung und etlichen Retuschen durch die Kommission wurde sie am 11.6.2024 durch den Grossen Rat gutgeheissen. Bevor die beschlossenen Strategien umgesetzt und wirksam werden, braucht es als Nächstes Gesetzesanpassungen, was noch zwei, drei Jahre beanspruchen wird.
Damit kommen wir zu den aktuellen Aussichten im Gesundheitswesen. Dieses bereitet mir grosse Sorgen, und leider muss ich eingestehen, dass «die Politik» weit davon entfernt ist, die riesigen Herausforderungen (nicht bloss am Horizont – wir sind schon mittendrin) zu stemmen, trotz unserer tollen GGpl 2030. Zusammenfassend leben wir (wie übrigens auch anderweitig) über unsere Verhältnisse und beanspruchen eine Versorgung, die wir uns eigentlich so nicht leisten können. Diese Diagnose zieht sich wie ein roter Faden vom einzelnen Patienten über die Gesundheitsinstitutionen bis in die Gesamtstruktur des Gesundheitssektors.
Ein Lichtblick ist das Projekt «Einheitliche Finanzierung Ambulant und Stationär» (EFAS), über das wir im November abstimmen, und das eine klare Zustimmung verdient. Es wird v.a. die Effizienz invasiver und operativer Behandlungen verbessern, d.h. geeignete Eingriffe werden kostengünstiger ambulant statt stationär durchgeführt, logischerweise sollten dann auch weniger Spitalbetten pro Einwohner nötig sein.
Die Unruhe in den Spitälern kommt aber nicht von da her. Das 2009 in Kraft getretene Finanzierungssystem mit Fallpauschalen zeigt nun die von seinen ordoliberalen Erfindern, angeführt durch die FDP, schon damals beabsichtigte Wirkung – dummerweise nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Die Politik wollte «unwirtschaftlich» arbeitende, überzählige Spitäler durch marktähnliche Mechanismen eliminieren lassen, anstatt sich mit sachlich begründeten Entscheiden bei der Bevölkerung unbeliebt zu machen. Leider wurde vergessen, den Krankenkassen nebst der Preis- und Kostenkontrolle eine Mitverantwortung für die Versorgung zu überbürden. Deshalb konnten diese die Preise derart drücken, dass mittlerweile fast alle Spitäler «unwirtschaftlich» sind. Ebenso wäre eigentlich von Vornherein klar gewesen, dass «systemrelevante» Spitäler unabhängig von ihrer betriebswirtschaftlichen und medizinischen Performance nicht einfach geschlossen werden können und somit «too big to fail» sind (ein Begriff, der 2009 nach der globalen Finanzkrise in aller Munde war …).
Die Folge ist und wird sein, dass vor allem kleinere Spitäler, auch im Kanton Aargau, zu ersticken drohen und ihr Leistungsangebot stark verändern müssen, wenn sie als erste umfassend ausgerüstete Anlaufstelle für ihre Region überleben wollen. Dass diese kleineren Spitäler die einfacheren Behandlungen (ihr Kerngeschäft) kostengünstiger als grosse Häuser abrechnen, scheint niemanden zu interessieren. Aufschlussreich wird sein, wie sich die neu einzuführenden „ambulanten Pauschalen“ auswirken werden – für diejenigen, die dann noch im Rennen sind.
Die Politik, allen voran die seinerzeit bei der neuen Spitalfinanzierung führenden politischen Kräfte, wird sich deshalb in nächster Zeit via Medien ausgiebig empören. In der Sache aber werden wir alle unsere Anspruchshaltung hinsichtlich Servicequalität und Auswahlmöglichkeiten zurücknehmen, im Notfall zuerst auf Telemedizin setzen, längere Wege und Wartezeiten in Kauf nehmen und froh sein müssen, wenn Chronischkranke und Pflegebedürftige noch angemessen betreut werden. Trotzdem wird es nicht billiger werden. Das liegt schlicht daran, dass wir heute deutlich mehr bestellen und beanspruchen, als wir wirklich bezahlen. Irgendwie scheint in den Köpfen die Illusion herumzugeistern, dass «irgendjemand», ein Onkel aus Amerika vielleicht, dann schon den Rest berappe. Krankenkassen und Politik ihrerseits wollen «Kosten dämpfen», wodurch Praxen und Spitäler z.B. auf teuerungsbedingten Mehrauslagen sitzenbleiben und Investitionen (auch solche, die im System Kosteneinsparungen zur Folge hätten!) nicht mehr finanzieren können.
Die immer wieder herbeigeredeten 20% „überflüssigen“ Leistungen werden, so es sie denn gibt (nie wirklich in der Schweiz untersucht, sondern aus ausländischen Studien hergeleitet oder einfach behauptet), sicher nicht durch noch mehr Kostendruck verschwinden, sondern nur wenn für Koordination und Qualität die nötigen Mittel zur Verfügung stehen.
Der Aargau hat im Wettbewerb mit umliegenden Kantonen leider schlechte Karten. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, also Sie, verehrte Damen und Herren, haben 2013 die direkte Medikamentenabgabe durch Ärzte abgelehnt. Und bereits 1978 wurden durch unsere Grosselterngeneration die Pläne aus den 1960er Jahren endgültig begraben, im Kanton Aargau eine Hochschule oder Universität zu gründen. Das waren zwei demokratische Weichenstellungen mit fataler Langzeitwirkung. Damit ist unser viertgrösster Kanton kein besonders attraktiver Standort, wenn eine Gesundheitsfachperson sich überlegt, wo sie arbeiten und sich niederlassen will.
Fleiss, Genügsamkeit und Bescheidenheit, dem Kanton Aargau und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern oft attestierte Wesenszüge, könnten uns in dieser schwierigen Situation vielleicht helfen. Politisch möchte ich dem Kanton Werkzeuge in die Hand geben, um die kurz- und mittelfristig beeinflussbaren Standortfaktoren der Gesundheitsversorgung zu verbessern, diese mit den vorhandenen Mitteln möglichst wirksam und chancengerecht zu organisieren und gegen Unterversorgung (auf dem Land bereits deutlich spürbar) vorgehen zu können. Daneben sollten kontraproduktive oder bloss unnötige Hürden und Regeln beseitigt werden – dieser Aufruf geht vor allem in Richtung Bundesparlament. In der Medizin nennen wir das „Deprescribing“ oder zu Deutsch: Absetzen unnötiger Behandlungen. Das hilft dem Patienten und seinem Portemonnaie. Und wäre eine Haltung, die ich grundsätzlich mit dem hier vielgescholtenen Freisinn durchaus teile.
An diesen Themen arbeite ich, gemeinsam mit gesundheitspolitisch engagierten und versierten Kolleginnen und Kollegen aus allen Parteien – auch in der nächsten Legislatur, wenn Sie, geschätzte Wählerinnen und Wähler, das wollen. Mehr verspreche ich hier nicht. Wenn wir seit 2020 etwas gelernt haben, dann das: Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt!
Gesunde Grüne Grüsse
Severin Lüscher